Herr Kretzschmar, wir leben in unruhigen Zeiten. Die weltpolitische Lage ist instabil, die deutsche Wirtschaft schwächelt. Was bedeutet das für den Einzelhandel?
Zweifellos sind wir in einer Phase voller Herausforderungen. Die Verbraucherstimmung könnte optimistischer sein. Es gibt nicht nur innerdeutsch Probleme wie den Fachkräftemangel und die Inflation – sondern auch globale Unsicherheiten durch Krisen und Konflikte. Für Handelsunternehmen ist es daher umso wichtiger, kreativ zu bleiben und den Kundinnen und Kunden passende Lösungen anzubieten. Wir konzentrieren uns darauf, möglichst attraktive Angebote zu machen. Diese Strategie scheint zu funktionieren, weshalb wir positiv auf die kommenden Monate blicken.
Was sind – neben der weltpolitischen Lage – die größten Herausforderungen, denen sich der (Buch-)Handel aktuell stellen muss?
Tatsächlich sind die Herausforderungen seit Corona deutlich größer geworden. Wir identifizieren vier zentrale Trends und Entwicklungen: Erstens, die Kundschaft möchte verschiedene Kanäle – wie stationären Handel und Online-Shopping – nahtlos miteinander kombinieren und nutzen. Zweitens, Kundenwünsche und Trends verändern sich rasch, sodass Unternehmen schnell reagieren müssen. Drittens, die Ansprüche und Erwartungen an uns Händler steigen kontinuierlich. Und viertens, wir müssen unseren Kundinnen und Kunden einen echten Mehrwert bieten, denn ihre verfügbare Zeit ist begrenzt – und der Stellenwert des Lesens in der Gesellschaft nimmt ab. Für all das braucht es Investitionsbereitschaft, Wandlungsfähigkeit und Innovationsfreude.
Wie schafft man es, wieder mehr Menschen für Bücher zu begeistern?
Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sich aufhalten – also etwa in den sozialen Medien. Trotz der aktuellen Online-Affinität sind auch echte soziale Kontakte und der direkte Austausch weiterhin sehr gefragt. Unsere Mitarbeitenden in den Buchhandlungen spielen dabei eine Schlüsselrolle. Sie punkten mit ihrer Erfahrung und Beratungskompetenz. Zusätzlich schaffen wir auch durch eine inspirierende Einkaufsatmosphäre einen Mehrwert – sei es durch unsere Cafés in den Buchhandlungen oder durch Veranstaltungen. Ebenso tragen aber auch unsere Eigenmarken oder beispielsweise das Sortiment an Spielwaren dazu bei, Hemmschwellen abzubauen.
Weshalb kann Thalia sich im Buchhandel so gut behaupten?
Im Buchhandel wird es immer entscheidender, kanalunabhängige Lösungen anzubieten, die ein nahtloses Kauferlebnis ermöglichen. Dieser Perspektivwechsel – weg von isolierten Kanälen hin zu einer ganzheitlichen Kundenlösung – ist einer unserer wesentlichen Erfolgsfaktoren. Letztlich erwartet unsere Kundschaft, dass gewünschte Bücher direkt in der Buchhandlung verfügbar sind. Deswegen bieten wir zum Beispiel die Möglichkeit, nicht-vorrätige Bücher über einen QR-Code direkt zu bestellen und nach Hause oder in die Buchhandlung liefern zu lassen oder digitale Leseproben aufs Smartphone zu laden.
Tatsächlich verfolgen Sie aber auch sehr ambitionierte Ziele. Sie möchten bei Thalia die Zahl der Kunden verdoppeln und die Zahl der Nichtleser halbieren. Wie soll das gehen?
Unsere Strategie umfasst mehrere Säulen. Zunächst liegt der Fokus auf der Erweiterung unserer Services und auf der stationären Expansion. Parallel dazu streben wir ein Online-Wachstum an und entwickeln Vertriebstypen wie Thalia Retail Concepts weiter, mit dem wir Bücher beispielsweise in Supermärkte und Drogerien bringen. Mit unserem Engagement für die Leseförderung erreichen wir aktuell vor allem die jüngere Generation. Dabei sind unsere Buchhandlungen vor Ort besonders aktiv. Sie vernetzen sich mit Kitas, Grundschulen und Bibliotheken, bieten Veranstaltungen für Eltern und Kinder an oder setzen mit Zeugnis- und Nikolausaktionen ein Schlaglicht auf das Lesen. Außerdem beteiligen wir uns am Bundesweiten Vorlesetag, an Vorlesewettbewerben und 2024 erstmals am Deutschen Kita-Preis. Reicht das, um die Anzahl der Nichtlesenden deutlich zu reduzieren? Ein klares Nein. Daher muss es uns gelingen, die guten Ansätze zu bündeln und Partner zu finden, die gemeinsam mit uns die Leseförderung in größeren Dimensionen denken und vorantreiben wollen.
Sie möchten noch mehr erfahren? Das gesamte Interview mit Ingo Kretzschmar können Sie ab sofort als Podcast hören – oder im downloadbaren PDF von „Thalia Gesprächsstoff“ nachlesen.